Am 15. Juli 2020 hat der Sächsische Landtag das „Gesetz zur Einführung der Gemeinschaftsschule” verabschiedet. Damit wird künftig auch in Sachsen länger gemeinsam gelernt. Die Entscheidung über den Schulabschluss und damit über die Frage ‚Lehre oder Studium’ muss nicht mehr nach der vierten Klasse fallen.
Das war der Wunsch zahlreicher Bürgerinnen und Bürger. Mehr als 50.000 Menschen haben den Volksantrag „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen” des Bündnisses „Gemeinschaftsschule in Sachsen” unterstützt.
„Gute Schule ist nicht allein eine Frage der Schulart. Es ist vor allem eine Frage der Schulkultur und der pädagogischen Qualität.”
Dass der Volksantrag nicht unverändert übernommen wird, ist für manche völlig unverständlich, für andere zwingend. Das ist logisch, denn: In einer Frage, über die in unserem Land jahrzehntelang erbittert gestritten wurde, braucht es am Ende einen politischen Kompromiss.
Die Koalition greift den Volksantrag auf. Und ja, die Koalition setzt engere Grenzen als der Volksantrag. Bei manchen bestanden eben Sorgen mit Blick auf die Qualität oder die Standortsicherheit einzelner Schulen. Diese Sorgen können wir mit den Änderungen entkräften. Zwei Dinge werden damit sichergestellt:
mehr dazu
- Das Abitur einer Gemeinschaftsschule ist genauso viel wert wie das eines Gymnasiums und
- das längere gemeinsame Lernen sorgt gerade im ländlichen Raum für ein dichtes Schulnetz.
Die Umsetzung des Volksantrags ist der vorletzte Schritt auf einem langen Weg.
Der letzte Schritt besteht natürlich darin, ganz praktisch Gemeinschaftsschulen zu gründen. Und auch im ländlichen Raum mit der Oberschule+ das längere gemeinsame Lernen umzusetzen.
Wir wissen bereits von einer Reihe Schulen, die sich auf den Weg machen wollen.
Ist jetzt endlich alles gut im sächsischen Schulsystem? Nein, wichtig bleibt: Gute Schule ist nicht allein eine Frage der Schulart. Es ist vor allem eine Frage der Schulkultur und der pädagogischen Qualität. Auch deshalb ist es sinnvoll, den jahrzehntelangen Streit um die Gemeinschaftsschule in Sachsen nun endlich zu beenden und einen Schulfrieden herzustellen. So können wir uns auf die notwendigen Veränderungen bei den Inhalten von Schule konzentrieren.
„Langer Atem lohnt sich. Wir haben uns 2004 auf den Weg zur Gemeinschaftsschule gemacht. Nach vielen kleinen Schritten und einigen Rückschlägen werden sie nun endlich in Sachsen möglich.”
Warum die Gemeinschaftsschule wichtig und richtig ist, hat Martin Dulig 2019 in einem Perspektivenartikel in der Sächsischen Zeitung erläutert – der immer noch Gültigkeit besitzt:
Warum Kinder-Sortieren in der Schule nicht funktioniert
Der Gemeinschaftsschule gehört im Freistaat die Zukunft!
(Dieser Beitrag von Sachsens stellvertretendem Ministerpräsidenten Martin Dulig erschien am 26. Februar 2019 in der Rubrik „Perspektiven“ der Sächsischen Zeitung)
Dieser Tage stehen 35.000 Eltern in Sachsen wieder einmal vor der Frage: Wie geht es weiter mit meinem Kind? Oberschule oder Gymnasium? Beide Schularten haben in Sachsen viel zu bieten. Die schwarz-rote Landesregierung hat in den letzten Jahren eine Menge getan, um die Oberschulen zu stärken. Zahlreiche neue Lehrkräfte, eine umfassende Berufsorientierung und flächendeckende Schulsozialarbeit sind heute deren Qualitätsmerkmale. Und viele Eltern wissen das zu schätzen: Inzwischen werden auch Kinder mit Gymnasialempfehlung oft an einer Oberschule angemeldet.
Denn Oberschule oder Gymnasium ist für viele Eltern gar nicht mehr die entscheidende Frage. Wenn sich Eltern für eine weiterführende Schule entscheiden, geht es oft um ganz anderes: Können die Lehrerinnen und Lehrer als Personen überzeugen? Sind sie zugewandt, am Kind orientiert und für ihren Stoff begeistert? Ist das Schulgebäude einladend, sind die Wände kahl oder gestaltet, der Schulhof voller Beton oder voller Leben? Kommen genügend Freunde aus der Grundschule mit, sodass die sozialen Beziehungen erhalten bleiben? Und kann mein Kind zur Schule laufen, Rad fahren oder ist die Entfernung wenigstens so erträglich, dass am Nachmittag neben der Busfahrt noch Zeit für Hobbys bleibt?
Die Kurfürst-Moritz-Schule in meinem Heimatort Moritzburg ist so eine Oberschule, an der viele Kinder mit Gymnasialempfehlung lernen. Aus genau diesen Gründen: Die Lehrkräfte hier unterrichten mit Leidenschaft. Das Leitbild der Schule ist an der Begeisterung für das Lernen ausgerichtet. Fehler sind kein Problem, sondern eine Chance für Entwicklung. Kreativität wird gefördert, gemeinsame Projekte bringen die Schüler aller Klassenstufen zusammen.
Die Lernleistungen sind im sachsenweiten Vergleich überdurchschnittlich gut und niemand verlässt die Schule ohne Abschluss. Nicht umsonst ist die Kurfürst-Moritz-Schule in diesem Jahr für den Deutschen Schulpreis nominiert – als eine der zwanzig besten Schulen in Deutschland. Im Juni fällt die Entscheidung und meine Daumen sind natürlich gedrückt! Dass die Kurfürst-Moritz-Schule so ist, kommt nicht von ungefähr. Sie war eine jener neun Schulen, die in Sachsen von 2006 bis 2016 als Gemeinschaftsschule unterrichten durften. Viele der positiven Entwicklungen von damals wirken heute immer noch.
Ein wesentlicher Punkt ist die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. Weil an der Gemeinschaftsschule sowohl Kinder mit Oberschulempfehlung als auch solche mit Gymnasialempfehlung gemeinsam lernen, ist es wichtig, binnendifferenziert zu unterrichten. Das heißt: Alle Lernziele und Aufgaben werden auf das persönliche Lernniveau jedes einzelnen Schülers abgestimmt. Der Unterricht wird innerhalb ein und derselben Klasse differenziert. So geht niemand verloren, nur weil er etwas länger braucht. Und kein Überflieger langweilt sich, sondern bekommt zusätzliche Herausforderungen.
Dieser binnendifferenzierte Unterricht ist der Schlüssel zum Erfolg. Das zeigen inzwischen Tausende bildungswissenschaftliche Studien, übrigens auch Pisa. Und deshalb sollte er eigentlich an jeder Schule durchgeführt werden – unabhängig von der Schulform. Doch die frühe Trennung der Kinder in Oberschule und Gymnasium erzeugt bei vielen die Vorstellung, dass Binnendifferenzierung nicht notwendig sei. Die Kinder kommen ja „vorsortiert“ in der weiterführenden Schulart an. Dort wird von ihnen erwartet, dass sie alle den gleichen Stoff im gleichen Tempo auf dem gleichen Niveau lernen können. Was für eine Illusion!
Auch an unseren Oberschulen und Gymnasien gibt es langsame und schnellere Lerner. Ein und dieselbe Schülerin kann in dem einen Fach ganz vorn dabei sein und kommt in dem anderen kaum hinterher. Das ist völlig normal, denn Menschen sind unterschiedlich, die Welt voller Vielfalt. Das gegliederte Schulsystem verdrängt diese Unterschiede. Es tut so, als ob es sie nicht gäbe. Aber das funktioniert nicht. Und so geben Eltern dann enorme Summen für Nachhilfe aus. Schüler sind frustriert, weil sie nicht in ihrem Tempo lernen können und Lehrkräfte klagen über zuviel Heterogenität. Das Kinder-Sortieren funktioniert nicht. Es ist für die Bildung der Schüler langfristig von Nachteil. Denn sie werden in eine Welt entlassen, die immer vielfältiger, immer heterogener, immer komplexer wird. Da ist es vernünftiger, Vielfalt gleich von vornherein zum Prinzip zu machen. Dass das funktioniert, zeigen viele Schulen in freier Trägerschaft. Und eben auch so manche staatliche Schule.
Ein zweiter Punkt macht die Gemeinschaftsschule wertvoll: An ihr werden alle Kinder aufgenommen, unabhängig von der Bildungsempfehlung. Der Wohnort allein ist entscheidend. So bleiben die Schulwege kurz. Heute verbringen Kinder und Jugendliche bis zu zwei Stunden am Tag im Schulbus. Die Klassenkameraden wohnen voneinander entfernt, gemeinsame Unternehmungen nachmittags scheitern an langen Wegen. Und dann schimpfen wir Erwachsenen, dass sich unsere Kinder mit Gruppenchats und Online-Spielen behelfen, statt draußen gemeinsam zu spielen? Unser heutiges Schulsystem lässt ihnen oft gar keine andere Wahl. Die Zergliederung in Oberschule und Gymnasium hat zu einer Ausdünnung unseres Schulnetzes geführt. Weil ab der fünften Klasse in Sachsen eine doppelte Struktur bestehen muss – Oberschule und Gymnasium – kann es sich der Staat nicht leisten, in jedem Ort beide Schularten zu haben. Denn dann hätten beide Schulen zu wenig Schüler. Also kommt die Oberschule in die eine Stadt und das Gymnasium in die andere.
Und schon beginnt die Pendelei: Die Oberschüler aus dem Ort mit dem Gymnasium müssen in den Schulbus, die Gymnasiasten aus dem Ort mit der Oberschule genauso. Wie unvernünftig ist dieser Umgang mit Ressourcen! Die zusätzlichen Wege kosten Zeit, Geld und Benzin, sie kosten aber auch Freundschaften und Wohlbefinden. Anders mit der Gemeinschaftsschule: Es gäbe eine in beiden Orten. Wer im Ort wohnt, geht im Ort zur Schule. Das hat übrigens nicht nur zu DDR-Zeiten bei uns gut funktioniert. Das funktioniert so auch im Rest der Welt. Einzig Deutschland, Österreich und die Schweiz halten an der frühen Trennung der Kinder fest.
Individuelle Förderung, kurze Wege und ein dichtes Schulnetz sind überzeugende Argumente für die Gemeinschaftsschule. Deshalb unterstütze ich den aktuellen Volksantrag. Er ist sehr vernünftig, denn er gibt unserem Schulsystem Zeit für einen langfristigen und behutsamen Wandel. Das längere gemeinsame Lernen soll nicht ab sofort und überall umgesetzt werden – so wie es zum Beispiel die Wirtschaftskammern fordern – sondern schrittweise, auf freiwilliger Basis und im Konsens. Genau auf diese behutsame Art hat sich Jena in den letzten zehn Jahren zu einer Stadt entwickelt, in der es heute nur noch Gemeinschaftsschulen gibt und alle Schüler an ihrer Schule den jeweils für sie passenden Abschluss erwerben.
Neue Wege in der Bildung brauchen Zeit. Doch ganz gleich, wie lang sie sind: sie beginnen immer mit dem ersten Schritt. Deshalb ist es so wichtig, heute die Grundlagen dafür zu legen, dass der Freistaat Sachsen auch im Jahr 2030 für seine guten Bildungschancen anerkannt wird. Es gilt, die Zukunft in den Blick zu nehmen und unsere Schulen zu Orten der Lernfreude und Herzensbildung, der Vielfalt und des Zusammenhalts zu machen. Sachsen braucht die Gemeinschaftsschule.
Rede von Sabine Friedel – 15. Juli 2020
bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, zur zweiten Beratung des Volksantrags „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen“
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
weil wir alle inhaltlichen Aspekte des Volksantrags und seiner Änderungen schon intensiv diskutiert haben, erlaube ich mir mal, einige Schritte zurückzutreten. Im Juni 1991, vor mehr als 29 Jahren, hat der Sächsische Landtag das erste Schulgesetz beschlossen. Im Januar hatte die SPD einen Schulgesetzentwurf eingebracht, im April dann die CDU, also die Staatsregierung. Ich habe mir heute Morgen noch einmal das Protokoll dieser Sitzung durchgelesen (PP 1/21). Das ist sehr interessant. Es gab zwei große Streitpunkte damals. Das war zum einen die Zukunft des Horts. Die wird uns auch in dieser Wahlperiode noch intensiv beschäftigen. Und der zweite Streitpunkt war die Einführung – oder damals eher: die Beibehaltung – des längeren gemeinsamen Lernens.
Dieser Streit wurde damals unter dem Begriff der Gesamtschule geführt. Und er war, das sieht man beim Nachlesen, wirklich erbittert. Die SPD hatte in ihrem Schulgesetz natürlich die Gesamtschule als Regelschule vorgesehen, die CDU unser heutiges gegliedertes Schulsystem. SPD, Linke und Grüne waren damals in der Opposition, die CDU regierte. Es wurde dann ein Schulgesetz beschlossen, das nicht nur einfach das westdeutsche gegliederte Schulsystem übernahm. Sondern sogar eines, welches das längere gemeinsame Lernen kategorisch ausschloss. In Sachsen sollte kein Platz dafür sein.
Seither, seit mehr als 29 Jahren, streitet dieses Land über das längere gemeinsame Lernen. Das, was wir heute vor haben ist, diesen Streit endlich beizulegen.
In den letzten 29 Jahren haben wir Sozialdemokraten viele Anläufe unternommen, den kategorischen Ausschluss des längeren gemeinsamen Lernens zu durchbrechen.
2004 haben wir bei unserer ersten Regierungsbeteiligung neun Gemeinschaftsschulen eingeführt, als Modellversuch. Die waren dann mit der FDP wieder weg.
2014 haben wir bei unserer zweiten Regierungsbeteiligung das Schulgesetz geändert. Wir haben zwar keine Gemeinschaftsschule ins Gesetz gebracht. Aber mehr Durchlässigkeit, die Campuslösung und eine neue Bildungsempfehlung. Und wir haben mit der E 13, mit flächendeckender Schulsozialarbeit und Praxisberatung die Oberschule so stark gemacht, dass sie eine echte Alternative zum Gymnasium ist. Deshalb finden wir an Sachsens Oberschulen inzwischen schon 16 Prozent Schülerinnen und Schüler, die eigentlich eine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium haben – das sind fünf pro Schulklasse. Dass in solchen Schulen bereits heute binnendifferenziert unterrichtet wird, das können sie glauben.
Und dann, 2019, hat sich mit dem Volksantrag zum längeren gemeinsamen Lernen eine neue Tür geöffnet. Wir sind den Mitstreiterinnen und Mitstreitern im Bündnis sehr dankbar dafür. Wir sind den Hunderten Engagierten dankbar, die Unterschriften gesammelt haben. Und den 50.000 Bürgerinnen und Bürgern, die unterschrieben haben.
Wir haben in den letzten Monaten innerhalb der Koalition sehr intensiv diskutiert. Denn auch wenn seit 1991 fast 30 Jahre vergangen sind, so gilt ja doch die damalige Konfliktlinie zwischen der CDU auf der einen und SPD, Grünen und Linken auf der anderen Seite immer noch.
Wir haben gemeinsam versucht abzuschichten und zu versachlichen. Und sind bei einem Kompromiss gelandet, der sagt: Ja, die Gemeinschaftsschule kommt ins Schulgesetz. Ja, hier gibt’s keine Bildungsempfehlung. Ja, hier wird binnendifferenziert unterrichtet und länger gemeinsam gelernt. Aber: Eine solche Schule muss vierzügig sein (statt wie im Volksantrag vorgesehen zweizügig).
Beim Lesen des Plenarprotokolls heute früh hab ich gedacht: 30 Jahre klingen lang, aber manches ändert sich nicht. Der damalige Ministerpräsident Kurt Biedenkopf argumentierte damals: „Die integrierte Gesamtschule, wenn sie wirklich funktionieren soll, wenn sie die von Frau Rush anvisierte Vielfalt und Experimentiermöglichkeit wirklich anbieten soll, muss mindestens vier bis fünf parallele Jahrgänge haben.“ Genau diese Überzeugung leitet die CDU auch heute noch.
Muss ich diese Überzeugung teilen? Nein. Muss ich sie berücksichtigen? Ja. Wenn ich keine eigene Mehrheit habe, muss ich das. Genauso, wie wir – die SPD, aber auch die Grünen und die Linken – genauso wie wir unserer Überzeugung vom längeren gemeinsamen Lernen treu geblieben ist, genauso treu ist die CDU ihrer Überzeugung geblieben, dass eine Gemeinschaftsschule vier- bis fünfzügig sein muss.
Und wenn es nach einer Landtagswahl eben nicht reicht für eine Alleinregierung der SPD oder für rot-rot-grün – aber eben auch nicht für eine Alleinregierung der CDU – wenn die Leute nun mal so wählen, wie sie wählen, dann muss man sich zusammenraufen. Das haben wir gemacht.
Es war uns sehr wichtig, so wenig wie möglich am Volksantrag zu ändern – denn die 50.000 Bürgerinnen und Bürger wussten sehr genau, wofür sie unterschreiben. Deshalb gibt es eigentlich nur eine Änderung, nämlich die Heraufsetzung der Mindestzügigkeit von zwei auf vier. In der Folge dieser einen Änderung wäre das längere gemeinsame Lernen an kleinen Standorten, im ländlichen Raum, in den Unterzentren unmöglich geworden. Deshalb haben wir gemeinsam eine zwei Änderung vereinbart: Nämlich dort das längere gemeinsame Lernen von der 1. bis zur 10. Klasse in Form der Oberschule+ zu ermöglichen. Diese zwei Änderungen führen dazu, dass nicht mehr alle 280 Oberschulen in Sachsen sofort Gemeinschaftsschule werden können. Aber immer noch mehr als 150 Oberschulen. Denn wir haben ungefähr 30 Schulen, die für eine vierzügige Gemeinschaftsschule bis zur 12. Klasse in Frage kommen. Und weitere ungefähr 120 Oberschulen, die sich im ländlichen Raum zur Oberschule+ entwickeln können. Mehr als zehn Jahre nach der Einführung der Gemeinschaftsschule in Thüringen haben sich dort inzwischen 70 Gemeinschaftsschulen gegründet. Man sieht also, dass das Potential in Sachsen höher ist – wenn man es will. Möglich jedenfalls ist es jetzt. Und hier von einer Verstümmelung des Volksantrags zu sprechen, ist einfach sachlich falsch.
Dass wir heute etwas schaffen, was vor 30 Jahren ein Herr Biedenkopf, was Frau Rush von den Grünen (oder heute wieder Hermenau), Frau Schneider von der PDS und Herr Hatzsch von der SPD nicht geschafft haben – nämlich sich zusammenzuraufen, die Argumente des anderen anerkennen und abwägen, einen Kompromiss zu finden, der beiden Seiten gerecht wird – dass wir das heute schaffen – das sollten wir nicht gering schätzen.
Mit der Verankerung des längeren gemeinsamen Lernens im Schulgesetz schaffen wir heute die ganz praktische Möglichkeit zu zeigen, dass es geht. Zu zeigen, dass Gemeinschaftsschulen gute Bildungserfolge erzielen. Dass sie zufriedene Schülerinnen und Schüler haben. Dass sie für Lehrkräfte ein erfüllender Arbeitsort sind. Und dass sie unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. In allen anderen Bundesländern können das Schulen schon seit langer Zeit beweisen. Und das tun sie auch, denn es ist kein Zufall, dass vor allem Gemeinschaftsschulen die Sieger beim Deutschen Schulpreis sind. Jetzt kann auch Sachsen diesen Beweis führen. Ich bin sehr sehr froh darüber.
Der Weg zur Gemeinschaftsschule in Sachsen.
Der Weg bis zur Gemeinschaftsschule war lang. Schon 1990 plädierte auch die SPD für das längere gemeinsame Lernen und gegen die Übernahme des westdeutschen gegliederten Schulsystems. Nach der Landtagswahl 2004 konnten wir erstmals neun Gemeinschaftsschulen einführen.
Die erfolgreichen Modellprojekte wurden jedoch fünf Jahre später von der CDU/FDP-Regierung wieder abgeschafft. Mit der erneuten Regierungszeit der SPD 2014 bis 2019 wurden im Schulgesetz zwei Gemeinschaftsschulen verankert und insgesamt die Durchlässigkeit im Schulsystem erhöht.
Nun hat die Schulart Gemeinschaftsschule endlich einen Stammplatz im Schulgesetz.
Der Weg zur Gemeinschaftsschule in Sachsen.
2004
Die SPD tritt mit dem Ziel, in Sachsen eine Gemeinschaftsschule einzuführen, zur Landtagswahl an.
Herbst 2004
Im Koalitionsvertrag der ersten Koalition von CDU und SPD wird ein Modellversuch Gemeinschaftsschule vereinbart.
2006
Der Modellversuch beginnt mit neun Gemeinschaftsschulen: in Zittau, Chemnitz, Dresden, Cunewalde, Geithain, Moritzburg, Oederan, Zschopau und Leipzig.
2009
Nach der Landtagswahl wickelt die neue Regierung von CDU und FDP den Modellversuch trotz hervorragender Ergebnisse in der wissenschaftlichen Evaluation und großer Akzeptanz bei Eltern, Schülern und Lehrern ab.
2011
Mit dem schwarz-gelben Kürzungshaushalt organisiert die CDU-FDP-Regierung einen enormen Lehrermangel an Sachsens Schulen, der die nächsten Jahre der Schulpolitik prägen wird. Als einziges bildungspolitisches Projekt benennen CDU und FDP die Mittelschulen in Oberschulen um.
2014
Nach der Landtagswahl und einem erneuten Regierungseintritt der SPD erfolgt im Koalitionsvertrag keine Einigung auf die Gemeinschaftsschule.
2016
Die Regierung von CDU und SPD novelliert das Schulgesetz umfassend. Die beiden im Schulversuch verbliebenen Gemeinschaftsschulen – das Chemnitzer Schulmodell und die Nachbarschaftsschule Leipzig – werden dauerhaft gesetzlich gesichert.
2018
Durch ein Bündnis, an dem sich auch die SPD beteiligt, wird ein Volksantrag „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen“ initiiert. Ziel ist es, die Gemeinschaftsschule mittels Volksgesetzgebung durchzusetzen.
Sommer 2019
Das Bündnis „Gemeinsam länger lernen in Sachsen” sammelt über 50.000 Unterschriften. Der Volksantrag muss daher nach der Landtagswahl im Landtag behandelt werden.
Die SPD macht die Einführung der Gemeinschaftsschule zur Bedingung für eine neue Koalition.
Herbst 2019
Nach der Landtagswahl wird ein Kompromiss zur Einführung der Gemeinschaftsschule im Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und SPD vereinbart.
2020
Im Januar beginnen die Beratungen zum Gesetzentwurf des Volksantrages. Erstmals erhält die Vertrauensperson des Volksantrages Rederecht zur 1. Lesung im Sächsischen Landtag.
Im Mai werden der Volksantrag und die vorgeschlagenen Änderungen öffentlich im Ausschuss für Schule und Bildung angehört.
Juli 2020
Im Januar waren die Beratungen zum Gesetzentwurf des Volksantrages abgeschlossen. Die finale Abstimmung im Plenum war am 15. Juli 2020.
Die neue sächsische Gemeinschaftsschule.
Kompromiss Gemeinschaftsschule
Die Einigung zur Gemeinschaftsschule ist ein Kompromiss. Es ist uns gelungen, die Gräben zu überbrücken, Einigkeit zu finden und einen Schulfrieden herzustellen. Unser gemeinsamer Wille heißt: Wir ermöglichen das längere gemeinsame Lernen.
Künftig müssen also Eltern und Kinder nicht schon nach der 4. Klasse über die weitere Schullaufbahn – also Oberschule oder Gymnasium – entscheiden. Gemeinschaftsschulen wird es überall geben können – in Großstädten, in den Mittelzentren und im ländlichen Raum. Mit einer jeweils eigenen Lösung, die sowohl die Bildungsqualität sichert als auch Standortsicherheit im Schulnetz garantiert.
Mit der regulären Gemeinschaftsschule von Klasse 1 bis 12 wird besonders in den Städten eine leistungsfähige Schulart geschaffen, an der alle Abschlüsse erreicht werden können. Sie wird in den Großstädten vierzügig sein. In den Mittelzentren kann sie auch dreizügig starten. Und mit der Oberschule+ gibt es die Chance, das längere gemeinsame Lernen flächendeckend in ganz Sachsen auch im ländlichen Raum zu etablieren.
„Wir werden den mit dem Volksantrag vorgelegten Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren zügig, vollständig und in Abstimmung mit den Vertrauenspersonen des Volksantrages beraten und die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen in Sachsen ermöglichen.“
Gemeinschaftsschule
1. bis 12. Klasse an einer Schule
5. bis 12. an einer Schule in Kooperation mit einer Grundschule
mindestens 4‑zügige 5. Klasse in großen Städten
außerhalb von Oberzentren auch 3‑zügig möglich
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Eine Gemeinschaftsschule umfasst die Klassen 1 bis 12 (Primarstufe sowie Sekundarstufen I und II). Gemeinschaftsschulen können auch ohne eigene Primarstufe eingerichtet werden, wenn sie mit benachbarten Grundschulen feste Kooperationen eingehen.
Schülerinnen und Schüler können an der Gemeinschaftsschule alle allgemeinbildenden Schulabschlüsse bis hin zur allgemeinen Hochschulreife erwerben.
Eine Bildungsempfehlung nach der vierten Klasse braucht es nicht mehr. Die freie Schulwahl nach Abschluss der Primarstufe wird garantiert und ein Schulwechsel von und zur Gemeinschaftsschule wird ermöglicht.
Gemeinschaftsschulen können vom Schulträger neu gegründet werden oder durch Neukonstitution aus einer oder mehreren bestehenden Grundschulen, Oberschulen bzw. Gymnasien entstehen. Für die Neukonstitution bedarf es eines pädagogischen Konzeptes und der jeweiligen Zustimmung des Schulträgers sowie der Schulkonferenz und damit inzident auch der Lehrerkonferenz; benachbarte Schulträger sollen angehört werden.
Eine Gemeinschaftsschule kann eingerichtet werden, wenn sichergestellt ist, dass diese in der Klassenstufe 5 mindestens über vier Klassenzüge, also 80 Schüler*innen, verfügt. Außerhalb der Oberzentren kann die Klassenstufe 5 dreizügig eingerichtet und in den nachfolgenden Klassen- und Jahrgangsstufen fortgeführt werden. Von einem solchen Abweichen darf nicht in drei aufeinanderfolgenden Schuljahren Gebrauch gemacht werden.
Der Gemeinschaftsschule liegt ein von der Lehrer- und von der Schulkonferenz bestätigtes pädagogisches Konzept (Schulprogramm) zugrunde. Der leistungsdifferenzierte Unterricht erfolgt abschlussbezogen nach den Lehrplänen der Bildungsgänge entsprechend den einschlägigen KMK-Vorgaben.
Oberschule Plus
1. bis 10. Klasse im ländlichen Raum
5. bis 10. Klasse in Kooperation mit einer Grundschule
leichter Übergang zur Sekundarstufe II des Gymnasiums
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Für Schulstandorte im ländlichen Raum werden Oberschulen mit besonderem pädagogischen Profil „Längeres gemeinsames Lernen“ („Oberschule+“) ermöglicht. „Oberschulen+“ bestehen aus Oberschulen mit verbundener Grundschule und ermöglichen so das gemeinsame Lernen von Klassenstufe 1 bis 10. Sie verfügen über eine gemeinsame Schulleitung und ein gemeinsames Lehrerkollegium. Nach ihrem pädagogischen Konzept bieten die „Oberschulen+“ sowohl von der Differenzierung abweichende als auch ergänzende Bildungsinhalte zur Erleichterung des Übergangs an ein Gymnasium an. Sie ermöglichen den Erwerb eines Realschulabschlusses. Der Erwerb der Hochschulreife ist über den anschließenden Besuch eines Gymnasiums oder eines beruflichen Gymnasiums möglich. In „Oberschulen+“ oder beim Wechsel auf eine „Oberschule+“ bedarf es keiner Bildungsempfehlung. „Oberschulen+“ können außerhalb von Mittel- und Oberzentren eingerichtet werden und verfügen über maximal zwei Klassenzüge. Die Bildung einer „Oberschule+“ bedarf der jeweiligen Zustimmung des Schulträgers sowie der Schulkonferenz und damit inzident auch der Lehrerkonferenz; benachbarte Schulträger sollen angehört werden.
Änderung Schulgesetz
Die Änderung des Schulgesetzes basiert auf dem Gesetzentwurf des Volksantrages “Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen” des Bündnisses “Gemeinschaftsschule in Sachsen – Länger gemeinsam Lernen”
Im Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und SPD haben sich die Partnerinnen darauf verständigt, die Gemeinschaftsschule einzuführen, das Konzept aber in einigen Punkten anzupassen.
Die Änderungen erfolgten im üblichen parlamentarischen Verfahren mit erster Lesung im Plenum, einer öffentlichen Anhörung (und den zugehörigen Stellungnahmen) und Ausschussberatungen. Am 15. Juli entscheidet der Landtag in Tagesordnungspunkt 3.
Eine Gegenüberstellung des Volksantrages und der beschlossenen Änderungen (Synopse) gibt es als PDF zum Download.
Entschließungsantrag
Die geplante Umsetzung des Volksantrags ist der vorletzte Schritt auf einem langen Weg. Der letzte Schritt besteht natürlich darin, ganz praktisch Gemeinschaftsschulen zu gründen. Und auch im ländlichen Raum mit der Oberschule+ das längere gemeinsame Lernen umzusetzen.
Wir wissen bereits von einer Reihe Schulen, die sich auf den Weg machen wollen. Deshalb ist eine Unterstützung durch das Kultusministerium nötig, damit die Ideen umgesetzt werden können. Mit unserem Entschließungsantrag stellen wir sicher, dass interessierte Lehrkräfte Fortbildungen erhalten, die Eltern und Schüler in Gründungsprozesse einbezogen und die Schulen fachlich begleitet werden.
Bündnis Gemeinschaftsschule
Dass jetzt die Gemeinschaftsschule kommt, ist maßgeblich dem Bündnis “Gemeinschaftsschule in Sachsen – Länger gemeinsam Lernen” zu verdanken, das den Volksantrag initiiert und über 50.000 Unterschriften gesammelt hat.
Häufige Fragen und Antworten
Wurde der Volksantrag “verstümmelt”
Das liegt immer im Auge des Betrachters. Wir halten es für besser, mit einem Kompromiss voranzukommen als mit der reinen Lehre unterzugehen. Mit anderen Worten: Ohne einen Kompromiss würde es die Gemeinschaftsschule im neuen Schulgesetz nicht geben. Es mag nur ein Spatz in der Hand sein und nicht die Taube. Doch die Taube auf dem Dach zu erlegen, hat seit dreißig Jahren nicht funktioniert.
Wann können die ersten Gemeinschaftsschulen starten?
Ab dem 1. August 2020 gilt das neue Schulgesetz. Theoretisch also … ab sofort, unverzüglich ;-).
Für die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung sollten interessierte Schulen, Schulträger oder Eltern jedoch mindestens ein Jahr vor dem geplanten Start einrechnen, schließlich muss ein Schulprogramm geschrieben werden..
Wie viele Gemeinschaftsschulen wird es geben?
Schulentwicklung ist keine Sache, wo man eben mit dem Finger schnippt. Wir hoffen, dass es viele Schulen gibt, die sich auf den Weg machen. Wenn es gelingt, in den nächsten drei, vier Jahren eine zweistellige Anzahl von Gemeinschaftsschulen zum Leben zu erwecken, dann freuen wir uns sehr.
Sind die Kriterien nicht zu streng? Sind Gemeinschaftsschulen auf dem Land überhaupt möglich?
Ob die Kriterien “zu streng” sind oder nicht, das lässt sich ja vor allem mit einem Blick auf die Zahlen beantworten: Wir haben in Sachsen rund 280 Oberschulen. Mehr als 30 davon entsprechen den Zügigkeitskriterien für die Mittel- und Oberzentren. Und mehr als 120 davon denen in Unterzentren.
Das heißt: Mehr als die Hälfte aller Oberschulen – ungefähr 150 – können den Weg zur Gemeinschaftsschule ohne Hürden gehen. Diese Zahlen zeigen: Der wichtigste Schritt liegt nicht im Gesetz. Den wichtigsten Schritt müssen die Menschen vor Ort tun. Wir glauben an die Kraft der Idee und hoffen, dass sich viele Schulen auf den Weg machen.
Eine ausführliche FAQ zur Gemeinschaftsschule gibt es auf der Seite des Bündnisses „Gemeinschaftsschule in Sachsen”
Was es dafür braucht, ist eine Vision, langer Atem und eine Politik, die über Legislaturperioden hinaus denkt.
Stell Dir vor, in Sachsens Schulen würde man fürs Leben lernen statt für Klausuren…
Es gäbe zwei Lehrkräfte pro Klasse. Viele Unterrichtsstunden fänden draußen statt, in der Natur, in Handwerksbetrieben oder sozialen Einrichtungen.
Stell Dir vor, es gäbe keine starren Fächer mehr. In Gruppen wird an aktuellen Themen und Problemen gelernt, von Klimawandel über Gesundheitsförderung bis hin zu Unternehmensführung und Lebensphilosophie.
Stell Dir vor, die Kinder würden nicht sortiert in Oberschule und Gymnasium. Die Schule unterrichtet alle zusammen, jede und jeden nach seinen Fähigkeiten und Neigungen. Die Talente und Interessen des einzelnen Kindes stehen im Mittelpunkt. In seinen Stärken findet es Herausforderung und Motivation und in seinen Schwächen Hilfe und Unterstützung.
Stell Dir vor, am Ende der Schulzeit weiß jeder junge Mensch: Wer bin ich? Was treibt mich an? Was kann ich besonders gut? Und was wird mich durchs Leben tragen?
Unsinn? Utopie? Unerreichbar? Nein.
So können unsere Schulen werden. Davon bin ich überzeugt.
Was es dafür braucht, ist eine Vision, langer Atem und eine Politik, die über Legislaturperioden hinaus denkt. Mit diesem langen Atem haben wir nun endlich die Gemeinschaftsschule in Sachsen eingeführt. Jetzt ist Schulfrieden – und endlich Zeit für neue, für inhaltliche Debatten!
Jetzt ist es Zeit, neue Wege zu gehen. Unsere Schulen sollen Lernfreude vermitteln, Persönlichkeiten bilden, Selbstständigkeit, Teamarbeit und kritisches Denken fördern und praktische Erfahrung zulassen.
Mehr dazu? Dann einfach mal auf www.sabine-friedel.de vorbeischauen.