Kliese: Wir dürfen geschehenes Unrecht nicht übergehen

8. November 2018

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 ver­suchte Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nister Joseph Goeb­bels, einen Volks­zorn zu insze­nieren. Was wie eine spon­taner Aus­bruch von Unbe­hagen gegen­über der jüdi­schen Bevöl­ke­rung scheinen sollte, war lange geplant. Die tra­gi­sche Bilanz des größten Pogroms der Neu­zeit in Mit­tel­eu­ropa: 91 Juden wurden ermordet, 1400 Syn­agogen brannten oder waren ver­wüstet, 7500 Geschäfte wurden geplün­dert.

Morgen jährt sich die Reichs­po­grom­nacht zum 80. Mal. Dazu Hanka Kliese: „Das sollten wir zum Anlass nehmen, den Opfern zu gedenken, auf den Anti­se­mi­tismus in unserer Gegen­wart auf­merksam zu machen und um unsere Rituale im Gedenken auf ihre Wirk­sam­keit zu über­prüfen. Heute reden wir viel über Zivil­ge­sell­schaft, die es braucht. Wie sah es eigent­lich am 10. November 1938 mit der Zivil­ge­sell­schaft aus?

Die evan­ge­li­sche Kirche ver­zich­tete auf einen öffent­li­chen Pro­test, nur ein­zelne Pfarrer zeigten Cou­rage, sie mussten für ihre Soli­da­rität bitter bezahlen und kamen wie Pfarrer Albert Schmidt selbst ins KZ.

Die katho­li­schen Bischöfe schwiegen ebenso. Dom­propst Bern­hard Lich­ten­berg war der ein­zige katho­li­sche Priester, der offen gegen das Anzünden der Syn­agogen pre­digte. Er sagte die weisen Worte: ‚… was heute geschehen ist, haben wir erlebt: Draußen brennt die Syn­agoge. Das ist auch ein Got­tes­haus!‘

Ein großes Schweigen lag über unserem Land, nachdem so viel Unrecht geschehen war. Auch das ist eine Mah­nung, die uns dieser Tag mit­gibt – Wir dürfen gesche­henes Unrecht nicht über­gehen.

Am Morgen des 10. November 1938 haben die Deut­schen die Splitter unter ihren Füßen gespürt. Und nichts getan. Sie haben nichts gesagt und nichts infrage gestellt.

Auch heute gibt es Splitter von ein­ge­wor­fenen Scheiben, Spuren von Haken­kreuzen und offene Angriffe auf Juden.

Was wir tun können, ist hin­sehen, hin­gehen, die Stimme erheben.

Unsere Erin­ne­rungs­kultur ist an einem sen­si­blen Punkt ange­langt. Wir müssen schmerz­lich fest­stellen, dass jahr­zehn­te­langes Gedenken nicht mit einer Immu­ni­sie­rung gegen Anti­se­mi­tismus ein­her­geht.

Gut gemeinte, ker­nige Aus­sagen wie „Keine Tole­ranz den Into­le­ranten“ ver­fehlen ihre Wir­kung. Weil sie zu phra­sen­haft wirken oder zu abs­trakt sind für den Ein­zelnen. Und weil Vor­ur­teile sich schon längst wieder breit gemacht haben.  Der Aus­sage: „Juden ver­su­chen heute Vor­teile daraus zu ziehen, dass sie wäh­rend der Nazi-Zeit Opfer gewesen sind“ stimmen laut Sachsen-Monitor 39 Pro­zent aller säch­si­schen Beamten zu.

Ich frage mich oft, wie man Men­schen bewegen kann, acht­samer zu sein und was heut­zu­tage tat­säch­lich noch Herzen berührt. Dann lande ich immer wieder bei Ein­zel­schick­salen und hoffe auf deren Wir­kung.  So bewegte mich unlängst die Geschichte von Ursula Rosen­feld. Bis zur Macht­er­grei­fung erlebte sie eine glück­liche Kind­heit. Danach wurde sie zuse­hends iso­liert, nie­mand erschien mehr zu ihrer Geburts­tags­feier, eine andere Schule sollte sie sich suchen.  In der Pogrom­nacht wurde ihr Vater ver­haftet. Er wurde nach Buchen­wald trans­por­tiert und dort zu Tode geschlagen. Über einen der so genannten Kin­der­trans­porte kam sie von Hol­land nach Eng­land zu einer Familie, die sie auf­nahm. Sie hatte also großes Glück. Als der Krieg zu Ende war, wollte Ursula Rosen­feld end­lich ihre Eltern wieder sehen. Nun erfuhr sie vom Tod ihres Vaters und dass ihre Mutter in Minsk erschossen wurde.

Manche Juden hätten mit einer recht­zei­tigen Aus­reise vor der Pogrom­nacht am Leben bleiben können. Aber sie blieben in Deutsch­land, weil es ihre Heimat war und sie dachten „So schlimm wird es schon nicht kommen.“

Auch heute denken manche Men­schen – nicht nur Juden – wegen Gewalt und Aus­gren­zung dar­über nach, Deutsch­land zu ver­lassen. Sie bleiben hier, weil sie glauben: „So schlimm wird es nicht kommen.“

Auch wenn wir heute auf­ge­klärter sind und unsere Demo­kratie sta­biler ist: Genau darin liegt unser aller Ver­ant­wor­tung.“

 

Foto: Chris­toph Münch, CC BY-SA 3.0, https://​com​mons​.wiki​media​.org/​w​/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​?​c​u​r​i​d​=​6​0​5​2​976