Die stellvertretende Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag und Chemnitzer Abgeordnete Hanka Kliese hat sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Jochen Schulte aus Mecklenburg-Vorpommern an die Bundeskanzlerin gewandt, um auf die drohenden Massenentlassungen beim Callcenter-Riesen Majorel aufmerksam zu machen.
Der Brief im Wortlaut (als PDF-Datei):
25. Januar 2021
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
mit den besten Wünschen für das neue Jahr für Sie und Ihre Familie wenden wir uns heute in einer Angelegenheit an Sie, die für 1.411 Familien in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen darüber entscheiden wird, ob es ein gutes oder schlechtes Jahr wird.
Es geht um die geplanten Schließungen von vier Majorel-Standorten – ausschließlich in den ostdeutschen Bundesländern. Betroffen sind die Standorte Chemnitz, Neubrandenburg, Schwerin und Stralsund zum Jahresende. Im Jahr 2019 wurden – ebenfalls nur in den ostdeutschen Bundesländern – fünf Standorte geschlossen, in Gera, Leipzig, Dresden, Halle und Suhl. Dabei verloren circa 950 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. Zusätzlich erfolgte 2019 ebenfalls ein Verkauf der ostdeutschen Standorte Magdeburg und Cottbus.
Auch wenn uns bewusst ist, dass die Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen national wie international aktuell Ihre vollste Aufmerksamkeit erfordert, hoffen wir doch sehr, in dieser Angelegenheit Ihre Unterstützung für den Erhalt der Standorte und Arbeitsplätze vor Ort zu erhalten.
Die Majorel-Gruppe, die aus der Fusion der Bertelsmann-Tochter Arvato mit Geschäftsbereichen der Saham-Gruppe hervorgegangen ist, beschäftigt laut eigenen Angaben mehr als 52.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 29 Ländern und erwirtschaftet einen Umsatz von rund 1,2 Milliarden Euro jährlich. Das Kerngeschäft ist „Customer Experience“ also bspw. das klassische Call-Center.
In den zwischenzeitlich geführten Gesprächen wurde deutlich, dass aus Sicht des Betriebsrates Hintergrund für die Schließung der Standorte die Allokation von Geschäftsaktivitäten der Majorel-Gruppe auf Standorte mit einer vermeintlich besseren Kostenstruktur außerhalb Deutschlands ist.
Obwohl die Beschäftigten an diesen Standorten bereits jetzt nur den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, ist aus Sicht des Betriebsrates Ziel der Schließung die „Kostenoptimierung“ auf der Grundlage niedrigerer Löhne und damit insgesamt niedrigerer Personal- und Betriebskosten an ausländischen Standorten. Eine wirtschaftliche Notwendigkeit besteht hierfür, so die Ansicht des Betriebsrates, nicht zwingend. Auch seien Majorel-Standorte in den alten Bundesländern vom geplanten Personalabbau und/oder Schließungen nicht betroffen.
Dies ist aus unserer Sicht ein fatales Signal an die Menschen in Ostdeutschland. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sie wissen aus eigener Erfahrung um die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes in den neuen Ländern. In der benannten Größenordnung wird es an den betroffenen Standorten kaum möglich sein, den 1.411 von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen adäquate Job-Alternativen anzubieten. Aus unserer Sicht besonders bitter ist die Tatsache, dass der Anteil der Menschen mit Behinderung und teils schwerer Behinderung, die derzeit an den vier benannten Majorel- Standorten beschäftigt sind, bei gut 15 Prozent liegt. Auch der Anteil der Frauen liegt deutlich über dem der Männer. Damit würden die Schließungen wieder Personengruppen mit besonderer sozialer Härte treffen, die selbst im arbeitsfähigen Alter mit erschwerten Bedingungen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen und dann gegebenenfalls im Alter noch von Altersarmut bedroht werden.
Leider ist die Schließung bereits vor geraumer Zeit gut geplant und angelegt worden. Ein profundes Indiz hierfür: Die zur Schließung vorgesehenen Standorte sind in eine eigenständige GmbH überführt und inzwischen ein 100-prozentiges Tochterunternehmen der Bertelsmann- Gruppe. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Bertelsmann-Stiftung im November, als die Schließungspläne bekannt wurden, eine Studie zur Chance für strukturschwache Regionen durch CoWorking veröffentlicht hat.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
wir sind uns bewusst, dass der Einfluss der Politik auf Entscheidungen von Unternehmen immer nur mittelbar und sehr begrenzt ist. Gleichwohl halten wir es für dringend geboten, gerade die Bertelsmann-Gruppe an die eigene Corporate Social Responsibility zu erinnern. Bertelsmann ist nicht einfach nur ein beliebiges Unternehmen. Vielmehr nimmt die mit der Bertelsmann- Gruppe als Mehrheitsgesellschafterin auch gesellschaftsrechtlich verbundene Bertelsmann- Stiftung regelmäßig und sehr selbstbewusst durch ihre Veröffentlichungen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Hieraus erwächst unserer Ansicht nach auch die – wenngleich nur moralische – Pflicht, im eigenen unternehmerischen Handeln mit bestem Beispiel für eine gerechtere Gesellschaft und für die Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen in ganz Deutschland voranzugehen.
Während die Corona-Pandemie viele Wirtschaftsbereiche hart trifft, bspw. das für Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Ihren Wahlkreis so wichtige Hotel- und Gaststättengewerbe, gibt es für die Geschäftsfelder der Majorel-Gruppe aufgrund der Einschränkungen des öffentlichen Lebens und die Notwendigkeit der Reduzierung von Kontakten neue und vielfältige Chancen. Dass die Zukunft auch weiterhin gesichert werden könnte, lässt die Tatsache vermuten, dass weiterhin Stellenausschreibungen – jetzt natürlich nur befristet bis Jahresende
– veröffentlicht werden. Zudem habe die Geschäftsleitung um eine fristgerechte und sorgfältige Abarbeitung der vorliegenden Aufträge bis einschließlich Jahresende 2021 gebeten.
Darum sehen wir durchaus gute Möglichkeiten, für die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Schwerin, Neubrandenburg, Chemnitz und Stralsund tragfähige Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Wir würden uns daher freuen, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wenn wir Sie bei diesem Anliegen aktiv an unserer Seite wüssten.
Gespräche zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung sind gleichfalls bereits mit den Wirtschaftsministerien in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen geführt worden. Diese waren zwar konstruktiv, am Ende jedoch ohne greifbares Ergebnis für die Beschäftigten. Auch wenn die Wirtschaftsminister und Vertreter der betroffenen Kommunen weiterhin an ihrer Zielsetzung festhalten, die Standorte und Arbeitsplätze zu erhalten, bleibt die Unternehmensleitung offenkundig weiterhin bei ihren Überlegungen zur Standortschließung. Es werden leider keine Ansatzpunkte gesehen, Majorel zur Rücknahme der Entscheidung zu bewegen.
Wir bitten Sie daher im Namen der Beschäftigten der betroffenen Standorte sowie deren Familien um Unterstützung zum Erhalt der Arbeitsplätze an den betroffenen Standorten.
Für Rückfragen stehen wir Ihnen jederzeit gern zur Verfügung, wünschen Ihnen und Ihrem Kabinett für Ihre weitere Arbeit viel Erfolg und verbleiben in der Hoffnung auf eine baldige Antwort.
Mit besten Grüßen
Hanka Kliese, MdL
Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag
Jochen Schulte
Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag MV